Johannes Vetter im FAZ-Interview: "In Tokio wurde willkürlich mit unserer Gesundheit gespielt"
  17.01.2022 •     BLV


Hier folgt ein Interview mit Johannes Vetter (LG Offenburg), welches am 3. Januar 2022 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) erschien. Das Gespräch führte Achim Dreis.

Speerwerfer Johannes Vetter hat mit Tokio noch nicht abgeschlossen. Hier spricht er über riskante Rutschpartien und seinen Einsatz für bessere Bodenbeläge.

Achim Dreis:
Wie waren die Reaktionen in Ihrem Umfeld auf die für Sie missratenen Olympischen Spiele mit Platz neun im Speerwerfen? Mussten Sie Spott ertragen über den „fliegenden Teppich“, den neuartigen Bodenbelag, auf dem Sie ausgerutscht sind?

Johannes Vetter:
Natürlich haben sich alle geärgert, aber ich wurde auch gut aufgefangen, und ich habe mich auch selbst relativ schnell gefangen. Ich habe ja in den Wettkämpfen danach bewiesen, wer die Nummer eins war in diesem Jahr und auch weiterhin sein wird für die kommenden Jahre.

Wie konnte es eigentlich passieren, dass ausgerechnet beim wichtigsten Wettkampf ein anderer Belag lag als bei allen anderen?

Die Frage haben wir uns auch gestellt. Ich hatte mich eigentlich gefreut auf einen „Mondo“-Belag. Damit kam ich bislang immer gut zurecht. Auf einem Boden vom selben Hersteller habe ich schon 97 und 96 Meter geworfen, allerdings nicht mit dieser neuartigen Belagstechnik . . .

. . . der Bounce-Technik, die den Energieimpuls zurückgibt, womit Läufer bestens zurecht kamen, Werfer wie Sie aber eher nicht.

Richtig. Auf so einem Boden hatte ich noch nie geworfen. Das Problem war, dass kein Vorbereitungswettkampf dort stattgefunden hat aufgrund der Pandemie. Das heißt, wir konnten uns nicht darauf einstellen. Der zweite Kritikpunkt ist, dass sie uns in einer stark verletzungsanfälligen Disziplin um die Chance gebracht haben, uns darauf einzustellen – was ich fatal finde. Das war ein Unding, schlecht organisiert, nicht durchdacht. Es ist peinlich, dass der Dachverband World Athletics offenbar keine Ahnung davon hat, von welchen körperlichen Leistungsträgern seine Existenz hervorgeht. Wir haben so viele unterschiedliche Disziplinen in der Leichtathletik, und die setzen auch jeweils unterschiedliche Rahmenbedingungen voraus. Es geht ja auch um Verletzungsprophylaxe. Die Hersteller der Bodenbeläge und der Weltverband stehen meiner Meinung nach in der Pflicht, uns diese zu garantieren. Das war definitiv in Tokio nicht der Fall. Da wurde willkürlich mit unserer Gesundheit gespielt. Und es geht eben auch um die Gleichheit und faire Wettbewerbsbedingungen.

Sie waren nicht der Einzige, der Probleme mit dem Boden hatte.

Andere haben sich schon in der Qualifikation verabschiedet. Und da rede ich vom Weltjahreszweiten Marcin Krukowski aus Polen und dem -dritten Keshorn Walcott, dem Olympiasieger von 2012 aus Grenada. Die sind beide in der Quali rausgeflogen, weil sie eben auch gerutscht sind.

Aber es gibt ja auch eine andere Technik zum Werfen als die von Ihnen bevorzugte mit dem extremen Stemmschritt. Damit kommen zwar nicht ganz so große Weiten zustande, aber es hat in Tokio funktioniert. Hätten Sie keinen Plan B anwenden können?

Plan B, schön und gut, aber diesen Plan B umzusetzen erfordert Zeit und Training. Das wäre nix gewesen, was ich zwischen Qualifikation und Finale mal so eben umstellen könnte. Und ich trainiere ja, um die hundert Meter zu knacken und Weltrekord zu werfen. Ich trainiere ja nicht, um meine Technik so zu ändern, damit ich zwischen 85
und 88 Meter werfen kann ohne Rutschen. Von daher stellt sich mir diese Frage nicht. Ich investiere meine Arbeit und mein Training, um mich selbst herauszufordern. Mein Ziel ist, mich selbst zu schlagen, und das zu schlagende Ziel sind 97,76 Meter, mein deutscher Rekord von 2020. Wenn ich die schlagen kann, weiß ich, dass ich auch Weltrekord werfen kann, der bei 98,48 Metern steht. Und das ist ja auch im Sinne aller.

Sie kamen im Olympia-Finale auf 82,52 Meter und hatten dann noch zwei ungültige Versuche. Hätten Sie gar nichts anders machen können?

Ich konnte mir selbst nichts vorwerfen. Wir haben unter den Rahmenbedingungen, die vorherrschten, alles gemacht, alles probiert, auch schon direkt nach der Qualifikation bis zum Finale. Deshalb habe ich relativ schnell meinen Frieden mit dem Ergebnis gefunden. Wobei: So richtig akzeptieren konnte ich das Ganze nicht. Es war eine riesengroße Chance, die ich nicht nutzen konnte. Aber unter der Prämisse, dass man sich nichts vorwerfen konnte, muss man jetzt damit leben und weitermachen. Einfach weitermachen ist immer das Beste.

Olympiasieger wurde Neeraj Chopray aus Indien. Er ist erst 23 und kam mit 87,58 Metern völlig unerwartet zu Gold. Hatten Sie danach mit ihm Kontakt?

Ja, klar, ich stehe mit ihm schon in Kontakt. Wir Werfer verstehen uns ja international untereinander gut. Er hat nach Olympia aber keine Wettkämpfe mehr geworfen. Das lag auch daran, dass er medial durch halb Indien durchmusste und gefeiert wurde und natürlich auch finanziell jetzt ganz anders aufgestellt ist. Olympiasieger in so einem Land zu werden, das lohnt sich auf alle Fälle finanziell.

Er war der erste Inder, der in der Leichtathletik Olympiasieger wurde.

Ja. Und er hat ausgesorgt, definitiv. Um auf das Niveau zu kommen, muss ich noch ein paar Jahre werfen. Aber ich gönne es ihm, er hat es bewiesen, dass er ein „Rising Star“ ist. Er hat seine Chance an dem Tag genutzt und dementsprechend auch verdient gewonnen.

Also kein Neid?

Was bringt mir der Neid? Mein Antrieb ist, mich selbst zu schlagen, mich selbst zu verbessern, Tag für Tag, Woche für Woche, von Wettkampf zu Wettkampf. Daraus ziehe ich meine Motivation. Wenn ich mich selbst übertreffe und damit die Wettkämpfe gewinne, besiege ich natürlich auch die anderen. Aber es ist nicht so, dass ich mich freue, jemanden Bestimmtes geschlagen zu haben, sondern ich freue mich, wenn ich meine Tagesbestleistung erreicht habe.

Man sagt ja, dass man aus Scheitern lernt. Würden Sie dem zustimmen?

Ich glaube, dass man auch aus Siegen gut lernen kann, aber natürlich pushen solche Niederlagen noch ein bisschen mehr. Wenn es eine selbst verschuldete Niederlage gewesen wäre, wäre der Lernprozess daraus noch größer gewesen. So ist er in der Hinsicht hilfreich, dass wir uns jetzt mit dem Weltverband und den Produzenten der Bodenbeläge auseinandersetzen, ihnen Feedback geben. Wir versuchen sie aufmerksam zu machen auf die Problematik. Und das läuft sehr gut.

Sie haben es als Athlet selbst in die Hand genommen und informieren die Hersteller darüber, was ein guter Athlet braucht?

Richtig. Boris Obergföll, der Bundestrainer, hat sich mit den Herstellern sehr schnell vernetzt. Und Kontakte geknüpft. Wir sind in regem Austausch. Und ich hab mit Sebastian Coe, dem Weltverbands-Präsidenten, in Lausanne bei einer Konferenz gesprochen und auch mit dem Technischen Delegierten von World Athletics Kontakte geknüpft. Wir hatten relativ viele Meetings, um einen Plan zu schaffen, jetzt erst mal für uns Speerwerfer. Dafür bekomme ich auch jede Menge Feedback von vielen internationalen Speerwerfern, vor allem auch von den amerikanischen, weil es für sie ja nächstes Jahr bei der WM in Eugene auch darum geht, dass sie sich profilieren können. Aber da bildet sich momentan dieselbe Schwachstelle ab, dass der Belag wieder unzureichend sein wird für große Weiten und gute Würfe.

Das gleiche Problem wie in Tokio könnte in Eugene wieder anstehen?

Wir sind dran, damit das gleiche Problem nicht noch mal auftaucht. Auch der Weltverband bemüht sich darum, Lösungen für die internationalen Höhepunkte zu finden. Und hoffentlich ab 2024 dann auch gewisse Standardisierungen zu erzielen.

Wollen Sie bewirken, dass der Belag so sein wird, damit er Ihnen zugutekommt?

Der Weltverband muss sich die Frage stellen: Um was geht’s in der Leichtathletik? Geht’s um höher, schneller, weiter? Geht es um Weltrekorde? Geht es darum, dem Publikum etwas anzubieten? Werbung zu machen für die Leichtathletik? Oder wollen wir weiterhin Würfe von 80 bis 90 Metern sehen?

Haben Sie Antworten?

Ich glaube, die Leute sind schon interessiert daran, Würfe von 90 bis 100 Metern zu sehen. Und die kann ich bieten. Die können auch andere bieten, die das in Tokio aber auch nicht abrufen konnten aufgrund der Rahmenbedingungen.

Es wäre ja faszinierend, wenn ein Athlet in Kombination mit seinem Trainer es schaffen würde, das Regelwerk athletengerecht umzugestalten. Dann würde Ihre sportpolitische Karriere ja bereits während Ihrer aktiven Zeit mit einem Paukenschlag beginnen.

Ja, aber so, wie es momentan in der internationalen Sportpolitik ausschaut, bin ich nicht scharf darauf, Teil davon zu sein.

Haben Sie das ganze Tokio-Debakel letztlich verletzungsfrei überstanden? Sind Sie körperlich gut aufgestellt, um das Jahr zuversichtlich anzugehen?

Ja, nach dem Schreckmoment in Tokio hab ich meinen Fuß durchchecken lassen. Der war natürlich leicht geschwollen nach der Rutschpartie dort. Aber ich konnte die Wettkämpfe danach weiter werfen, das war kein Problem. Und auch jetzt momentan befinde ich mich in einer guten sportlichen Verfassung. Das Training macht Spaß, ich hab Lust drauf, bin motiviert so wie immer, also es ist alles beim Alten. Da bin ich auch sehr dankbar. Aber es ist noch ein langer Weg. Es kann noch viel passieren.

Sollte es bei der WM tatsächlich wieder Probleme mit dem Boden geben, wäre dann die EM in München für Sie das wertvollere Ziel 2022?

Nein, definitiv nicht. Das sind zwei Höhepunkte, und ich möchte beide gewinnen, da mache ich keine Abstriche. Für mich ist jeder Wettkampf ein Wettkampf, egal ob Europameisterschaft, Weltmeisterschaft, deutsche Meisterschaft oder Speerwurfmeeting Offenburg. Ich gehe jeden Wettkampf gleich an, mit meiner gleichen Routine, mit meinem gleichen Tagesablauf.

Wie werden Sie den Winter verbringen?

Daheim. So wie sich die Corona-Lage jetzt wieder entwickelt, ist das mehr als vernünftig, jetzt einfach zu Hause zu bleiben und so gut es geht zu Hause zu trainieren. Natürlich sind Trainingslager geplant, bevor es zu den Wettkämpfen geht. Aber von den Planungen ist es noch ein weiter Weg bis zum Umsetzen.

Wie gehen Sie damit um, dass nun schon der zweite Corona-Winter kommt, bei dem Sie kaum über die Woche hinausschauen können? Stresst Sie das, oder haben Sie eine Grundruhe und sagen: Es kommt halt, wie es kommt?

Eher das Zweite. Ich gehe da relativ pragmatisch an die Sache ran. Es geht ja vielen Menschen genauso. Man muss da einfach besonnen bleiben und aus den gegebenen Bedingungen das Beste machen. Das Wichtigste ist nach wie vor, sich nicht anzustecken. Sich selbst und seine Umgebenden so gut es geht zu schützen. Auf zwei Wochen Quarantäne, geschweige denn auf eine Infektion kann ich gerne verzichten. Durch die Impfung und meine Vorsicht bin ich bislang gut gefahren. Das soll auch so bleiben.

Das Gespräch führte Achim Dreis.

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