Ein Jahr zum Lernen?
  12.11.2020 •     BLV


Carl Dohmann blickt für das Badische Tagblatt auf seine von Corona bestimmte Saison zurück.

Mein einziger Wettkampf über 50km dieses Jahr endete mit einer vorzeitigen Aufgabe, meiner ersten seit mehreren Jahren. Es war der Endpunkt einer langen, trainingsstarken Saison. Trotzdem stand der Wettkampf am Ende unter schlechten Vorzeichen.

Um die ganze Geschichte zu erzählen: Nachdem im März alle Wettkämpfe der Pandemie zum Opfer gefallen waren und sogar die Olympischen Spiele verschoben wurden, nahm ich zunächst einige Wochen Abstand vom Leistungssport und trainierte ohne Plan vor mich hin. Ich war in Hochform gewesen. Der erste 50km-Wettkampf sollte am 21. März stattfinden und die Vorbereitung darauf lief besser als vor den Weltmeisterschaften in London und Doha, wo ich Neunter und Siebter geworden war. Doch eine Ausnahmesituation hielt die Welt in Atem und ich sah ein, dass nun andere Dinge wichtiger waren als Sport.

Ende Mai begannen mein Trainingspartner Nathaniel Seiler (TV Bühlertal) und ich das geregelte Training wieder, mit dem Ziel, im Oktober bei der Deutschen Meisterschaft über 50km zu starten. Leider wurde diese bereits Anfang Juni abgesagt, und wir änderten unsere Strategie: Weil der Qualifikationszeitraum für die Olympischen Spiele bis Ende November ausgesetzt und somit europaweit kein gut besetzter 50km-Wettkampf zu erwarten war, nahmen wir uns die 20km im tschechischen Podebrady am 10. Oktober vor.

Unser Trainer Robert Ihly bereitete uns mit einem sehr harten und geschwindigkeitsbasierten Training vor, mit Strecken bis 30km, aber auch sehr intensiven Tempoeinheiten. Das war für uns ein neuer Reiz nach dem jahrelangen Ausdauertraining, aber wir glauben daran, dass er uns auch langfristig voranbringen wird, nicht zuletzt, weil nach 2021 die Verkürzung der Wettkampfstrecke von 50 auf höchstens 35km im Raum steht.

Die erste Wendung kam Ende Juli, als der Leichtathletik-Weltverband verkündete, dass erreichte Olympia-Normen im Marathon und Gehen nun doch schon ab September zählen würden. Es war nun damit zu rechnen, dass irgendein Veranstalter kurzfristig noch einen Qualifikationswettkampf über 50km austragen würde, was schließlich Dudince in der Slowakei auch tat. Robert fragte uns, ob wir umschwenken wollen. Aber Nathaniel und ich wollten nicht. Wir waren seit zwei Monaten im Training für Podebrady und wir wollten jetzt wissen, was wir auf den 20km erreichen können, nicht mitten in der Vorbereitung die Richtung ändern. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte.

Denn die zweite Wendung kam ein Monat vor dem Wettkampf, als die Region um Prag zum Risikogebiet wurde. Ausgerechnet Podebrady wurde damit fraglich. Wir mussten uns also eine Alternative suchen, denn wir wollten unbedingt dieses Jahr einen Wettkampf auf hochklassigem Niveau machen. Die Idee war, uns gezielt auf Podebrady vorzubereiten, solange der Wettkampf nicht abgesagt wird, und im Fall einer Absage sofort auf die 50km umzuschwenken - notfalls mit einer äußerst kurzen Vorbereitung.

Gut eine Woche vor dem Wettkampf waren wir in sehr guter Form für die 20km und der Start schien gesichert, doch dann teilte der Deutsche Leichtathletik-Verband Nathaniel mit, dass ihm als Angehöriger der Bundeswehr die Reise nach Tschechien untersagt wird. Ein Schock nach der langen Vorbereitung. Er sattelte also wie für diesen Fall geplant direkt auf die 50km um, doch viel war an langen Strecken mit nur noch drei verbliebenen Wochen nicht mehr zu machen.

Ich hatte als quasi Selbstständiger das Glück, auf eigene Verantwortung in Podebrady starten zu dürfen. Robert und ich entschieden, in der Nacht vor und nach dem Wettkampf in Dresden zu übernachten, um jedem Risiko aus dem Weg zu gehen. Im Wettkampf ging ich gleich beherzt an und versuchte, eine Zeit unter 1:21h zu erreichen. Die Form hatte ich, aber es stellte sich heraus, dass mir die Wettkampfpraxis auf der kurzen Strecke offensichtlich doch fehlte. Meine letzte wirklich akribisch vorbereitete 20km lag mehr als vier Jahre zurück.

Ich ging unrund, wackelte viel mit dem Oberkörper. Wahrscheinlich trug auch das ganze Theater im Vorfeld zu einer gewissen Unsicherheit bei. Jedenfalls ermahnten mich vier Kampfrichter wegen fehlenden Bodenkontakts und zwei davon stellten einen Antrag auf Disqualifikation. Um überhaupt ins Ziel zu kommen, musste ich mein Tempo deutlich drosseln und ich erreichte in 1:22:41h das Ziel. Keine schlechte Zeit für einen 50km-Spezialisten, aber nach der aufwändigen Vorbereitung hatte ich mir mehr erhofft.

Weil ich die Saison nicht mit einer gefühlten Niederlage beenden wollte und ohnehin eine Woche später noch die Badische Meisterschaft in Biberach stattfand, entschied ich mit Robert unmittelbar nach dem Wettkampf, meinen Trainingspartner nach Dudince zu begleiten und ebenfalls die 50km in Angriff zu nehmen. Natürlich ist das etwas verrückt, ohne spezielle Vorbereitung, ohne Training oberhalb von 30km. Aber mal im Ernst: Warum sollte ich es nicht zumindest versuchen? Der ganze Aufwand davor, die Erfahrung, die man aus jedem 50km-Wettkampf mitnimmt, waren es einfach wert.

Die zwei Wochen zwischen Podebrady und Dudince waren sehr schwer. Noch am Abend nach meiner und Roberts Rückkehr aus Dresden beschloss die slowakische Regierung so drastische Maßnahmen, dass der Wettkampf in Dudince geradezu unrealistisch wurde. Zum dritten Mal dieses Jahr stand mein Start unmittelbar vor einem Wettkampf vor dem Aus, und ich gebe zu, dass es für einen Moment meinen Willen brach. Doch als klar wurde, dass die 50km unter strengen Auflagen voraussichtlich stattfinden können, wollte ich sie auch in Angriff nehmen, auch wenn mein Körper bereits Signale sendete, dass er sie nicht mitmachen würde.

Die Badische Meisterschaft machte ich als Training in 1:30:31h. Es war ein gutes Gefühl, diesen Wettkampf zu machen, auch wenn der Puls für diese Geschwindigkeit eigentlich zu hoch war. Ich war einfach froh, dass ich all die Wettkämpfe im Oktober nach dem kräftezehrenden Hin und Her machen durfte, und missachtete, wie sehr der Stress meinem Körper mittlerweile zugesetzt hatte. Den Titel überließ ich Nathaniel, weil ich die letzten zehn Jahre Badischer Meister geworden war und ihm schon 2019 versprochen hatte, dass er im nächsten Jahr mal dran ist, weil wir den Wettkampf eh als schnellere Trainingseinheit machen.

Nach diesem Exkurs stand für Nathaniel, Robert und mich nun also noch Dudince an. Die Teilnahme dort war mit einem großen Aufwand verbunden: Ein Corona-Test vor der Anreise, einer am Nachmittag vor dem Wettkampf, einer nach der Rückreise, Autofahrt mit Zwischenstopp in Altötting. Corona macht es möglich, aber wir konnten letztlich froh sein, dass wir trotz der harten Maßnahmen der slowakischen Regierung starten konnten. Ich ging gelöst in den letzten Wettkampf der Saison, die Taktik war, wegen der unspezifischen Vorbereitung sehr langsam anzugehen und nach 30km zu schauen, was möglich ist.

Dass ich unter den Umständen nicht in den Bereich meiner Bestzeit von 3:45:21h kommen kann, war mir klar, ebenso, dass die Olympia-Norm von 3:50h eher unwahrscheinlich sein würde. Aber eine Leistung irgendwo zwischen 3:50 und 3:55h hatte ich mir schon erhofft. Immerhin hatte ich noch im September ein paar sehr gute Einheiten über 30km absolviert, mit sehr niedrigen Pulswerten auch bei annähernd 50km-Wettkampftempo.

Doch diese gute Verfassung war nicht mehr da. Trotz des niedrigen Anfangstempos machten schon nach 20km die Beine nicht mehr richtig mit, es war nur ein Kampf Runde um Runde. Nach 26km blieb ich für etwa eine Minute stehen und versuchte, mich zu sammeln. Ich wollte das Rennen zumindest irgendwie beenden. Doch es half nichts. Schon nach 27km ging es weiter bergab und bald später konnte ich meine Beine nicht mehr kontrollieren. Nach der 30km-Marke gab ich das Rennen auf.

Es ist seltsam, wie das Leben manchmal spielt. 2019 war für mich eine Achterbahnsaison mit vielen Rückschlägen und wenigen Lichtblicken. Am Ende wurde ich Siebter bei der Weltmeisterschaft. 2020 dagegen war das wohl beste Trainingsjahr meiner Karriere, erst im Ausdauerbereich den ganzen Winter über, und im Sommer bei der Entwicklung der Geschwindigkeit. Am Ende stehe ich nur mit einem mittelmäßigen Ergebnis über 20km da.

Könnte ich die Zeit zwei Monate zurückdrehen, würde ich alles so machen wie der Erfurter Karl Junghannß: Er setzte von Anfang an auf die 50km und damit auf seine Paradestrecke. Am Ende schaffte er als einziger deutscher Geher die Olympia-Norm, eine letztlich verdiente und erarbeitete Leistung.

Natürlich war es für ihn auch ein Risiko: Wäre Dudince kurzfristig abgesagt worden, hätte er dieses Jahr alles verloren. Nathaniel und ich hatten ja immerhin den Vorteil, zur Not eine zweite Chance zu haben. Doch wie wir gesehen haben, bringt das im Zweifel nicht viel, wenn es sich um zwei verschiedene Strecken handelt.

Für Nathaniel war die am Ende erzwungene Vorbereitung auf die 50km zu kurz. Lag er die ersten 35km noch deutlich auf Kurs für die Olympia-Norm, fehlten ihm in der Schlussphase die langen Strecken im Training und er brach deutlich ein. Und ich hatte bis zuletzt voll auf die 20km gesetzt, auf denen ich weniger Wettkampferfahrung habe, was mir bei den Verwarnungen zum Verhängnis wurde.

Trotz der negativen Erfahrungen möchte ich mich vor allem bei meinem Trainer Robert bedanken, der Nathaniel und mich bei allen Entscheidungen unterstützt und, soweit es die Umstände zugelassen haben, bestmöglich vorbereitet hat. Ihm wäre es im August schon lieber gewesen, wir hätten in der Vorbereitung zurück auf die 50km gewechselt. Aber man ist als Athlet eben keine Maschine, die man permanent umprogrammieren kann. Aus damaliger Sicht fühlte es sich einfach richtig an, einmal angefangen, im Training für die 20km zu bleiben.

Eine moralische Stütze waren mir auch meine Trainingspartner Nathaniel und Bianca Dittrich, meine Vereinskameradin beim SCL Heel Baden-Baden. In schwierigen Zeiten, in denen man viel zuhause ist, lernt man sein eigenes Umfeld oft mehr zu schätzen.

Die Zeit kann man nicht zurückdrehen, aber man kann aus seinen Fehlern lernen. Ich glaube jetzt zu wissen, worauf es in der Krise ankommt. Immerhin: Alle drei Wettkämpfe, die ich für den Oktober in Erwägung gezogen hatte, konnten stattfinden. Nachdem ich lange für meinen Zweckoptimismus diesbezüglich belächelt wurde, werde ich mit dieser Einstellung auch durch alle Lockdowns gehen, die eventuell noch kommen werden. Ich bin überzeugt, dass sich das, anders als dieses Jahr, irgendwann auszahlen wird.

Vielen Dank an das Badische Tagblatt für die Bereitstellung des Artikels.